Ein großes zweiteiliges Wandgemälde prägt den Raum Revolution der Ausstellung BERLIN GLOBAL. Das fast zwanzig Meter lange Kunstwerk erstreckt sich über die Außenseiten von zwei halbrunden Stellwänden.
Die Wiedergeburt des Osiris heißt das Werk von Hanaa El Degham, geschaffen aus Ölfarben, Eitempera und als Collage auf Leinwand. In einzelnen, ineinanderfließenden Szenen zeigt es Motive der altägyptischen Mythologie zusammen mit fliegenden, fliehenden, suchenden und tanzenden Menschen. So beschreibt die Künstlerin den Zustand „Revolution“ als Bewegung, Befreiung und Erneuerung.
Die Künstlerin Hanaa El Dagham während ihrer Arbeit am Wandgemälde „Die Wiedergeburt des Osiris" in der Dauerausstellung BERLIN GLOBAL
Hanaa El Degham lebt und arbeitet seit 2008 in Berlin. Anlässlich der Revolution in Ägypten reiste sie 2012 zurück nach Kairo, in die Stadt, in der sie geboren wurde. Sie arbeitete dort zusammen mit anderen Künstler*innen in der Nähe des Tahrir-Platzes und begleitete die politischen Umbrüche in gigantischen Wandbildern.
Für das Kunstwerk in BERLIN GLOBAL versuchte Hanaa El Degham die Energie der Straßenproteste ins Humboldt Forum zu holen. Im ersten Schritt lud sie zahlreiche Aktivist*innen ein, vor Ort über die Bedeutung von Revolution für sie persönlich zu reflektierten und ihre Ideen direkt an der Wand zu verschriftlichen. Diese Beiträge dienten als Grundlage der weiteren Arbeit.
El Degham komponierte das Bild zum großen Teil aus Motiven, die sie aus Büchern oder Nachrichtenquellen sowie aus der eigenen Fotografie gesammelt hatte und in das großflächige Gemälde übersetzte. Über ca. zwei Monate malte, übermalte und überklebte sie die Leinwände. Die verschiedenen Bildelemente bauten aufeinander auf und setzten sich wie ein Puzzle zusammen. Für El Degham war der Prozess eine Methode, sich dem Ort und der Aufgabe nach und nach anzunähern. Vielstimmigkeit, Unabgeschlossenheit und Bewegung sind somit zentrale Elemente des Kunstwerkes – wie auch einer Revolution.
(1) „Das Gemälde beginnt am Fuß eines Mannes, der den Kopf irgendwohin steckt. Ursprünglich war es ein Mann, der in einer Mülltonne nach Essen sucht. Ich verwandele ihn hier in eine Person, die in einen Brunnen – besser gesagt, in eine Wissensquelle – schaut. Diese ist aber ein Mensch, ein Derwisch: eine Quelle der Weisheit, der Heilkunst und der Erleuchtung. Der Mann schaut durch diese Person und sieht, was auf der Welt los ist, was in den darauffolgenden Szenen des Gemäldes passiert. Bei dieser Szene hatte ich das traditionelle ägyptische Spiel Sandok el Donia vor Augen: Jemand läuft auf der Straße mit einer Büchse herum, Passant*innen schauen hinein und erblicken Bilder von verschiedenen Ereignissen. Ein Mini-Kaiserpanorama.“
(2) „Unten links im Bild sehen wir eine Gruppe von tanzenden Sufis vor einem Boot mit Afrikaner*innen auf dem Seeweg nach Europa. Diese Szene entwickelte sich vor Ort. Ich wollte in dem Gemälde schmerzhafte, heftige Dinge zeigen, aber gleichzeitig auch verschiedenste Strategien der Selbstbestimmung. Menschen finden trotz aller Widrigkeiten einen Weg, sich von äußeren Bedingungen zu befreien und Spaß zu haben. Die Sufis gehören zu den ärmsten Gruppen Ägyptens, nehmen aber trotzdem ihr Leben in die Hand und schaffen sich Freiraum in der Trance, durch das Tanzen.“
(3) „Die Szene oben mittig im Bild greift einen anderen Aspekt von Gleichzeitigkeit auf. Im Hintergrund sieht man eine sehr schöne Moschee, im Vordergrund eine Reihe von Geflüchteten, die ihr Gepäck tragen und sich auf die Straße begeben. Auch Menschen, die fliehen, haben reiche Kulturtraditionen und tragen diese Geschichte in sich. Wissen sie, dass sie in einem Land ankommen werden, wo sie nicht verstanden und nicht geschätzt werden? Es war mir wichtig, dem vereinfachten Opferbild ‚arm und desolat‘ entgegenzuwirken. Viele fragen sich, wo ‚die Revolution‘ im Gemälde zu finden ist. Ich frage zurück, was sie unter ‚Revolution‘ verstehen: Leute auf der Straße mit erhobenen Fäusten? Kämpfe? Mir sind die Gründe wichtig, die die Menschen auf die Straße treiben – wie unfair oder unerträglich der Alltag für viele ist. Revolution ist Zerstörung: die Zerstörung des Alten. Dazu gehören Schmerzen, Verlust, Chaos, Flucht, bis die Verhältnisse sich ändern. Wenn man mich fragt, ob ich von der ägyptischen Revolution enttäuscht bin, muss ich sagen: Nein, bin ich nicht. Man ist enttäuscht, weil man erwartet, dass Dinge sofort passieren müssen. Wie sollte man aber Strukturen plötzlich ändern, die seit einer Ewigkeit existieren? Ich bin froh, dass die Revolution passiert ist, denn sie hat uns die Augen geöffnet. Wir mussten uns fragen, warum wir die Machtverhältnisse so lange akzeptiert hatten.“
(4) „Ganz oben links sitzt Osiris neben seiner Frau Isis und ihrer Schwester Nephthys vor dem fliegenden Auge, Horus, dem Beschützer. Die Geschichte ist so: Osiris herrscht über Ägypten und gilt als sehr gerecht. Seth, sein Bruder, möchte an die Macht, bringt ihn um, verteilt Osiris‘ Körper über das ganze Land und herrscht mit großer Ungerechtigkeit. Isis sammelt die Körperteile zusammen, damit sie von Osiris schwanger werden kann. Osiris wird nicht wirklich zum Leben gebracht, sondern ist dann Gott der Unterwelt. Isis bringt ihren Sohn Horus auf die Welt, der wiederum im Kampf gegen seinen Onkel ein Auge verliert. Mit dem verbleibenden Auge sieht er die ganze Wahrheit und sucht nach Gerechtigkeit. In dieser Geschichte gibt es zwar ‚gut‘ und ‚böse‘, der Punkt ist aber, dass immer beides existiert. Wir können ‚das Böse‘ nicht vertreiben, wir müssen Wege finden, damit umzugehen. Ich habe den Mythos von Osiris im Gemälde aufgegriffen, um menschliches Leiden, das Fehlen von Gerechtigkeit, die Ausbreitung von Korruption und das Verschwinden altägyptischer Moralgesetze zu beleuchten. In Altägypten spielt die Symbolik eine große Rolle. Ich habe Osiris ins Bild gerufen, damit er mit mir zusammen auf die Arbeit schaut und mir hilft, die Dinge anders zu sehen.“
(5) „Die Waage des Totengerichts ist die zweite Hälfte der Szene mit Osiris. In der altägyptischen Mythologie wird nach dem Tod eines Menschen das Herz gegen eine Feder gewogen. Der Vorgang wird durch den schakalköpfigen Gott Anubis geleitet. Ist das Herz leichter, dann war der Mensch gut. Ist das Herz schwerer, dann war der Mensch ungerecht und das Herz wird von Ammit, einem Mischwesen aus Krokodil, Löwe und Nilpferd, gefressen. Rechts von der Waage wirft sich ein Mann zu Boden. Zeigt er sich demütig oder bittet er um Vergebung? Aus der Ferne schaut Osiris auf die Waage und wartet auf das Urteil. Neben dem abgewogenen Herzen beziehen sich Textzeilen auf das Humboldt Forum. Viele Menschen, die am Gemälde teilgenommen haben, mussten ihre Vorbehalte gegenüber dem Humboldt Forum überwinden, um überhaupt mitzumachen. Einige haben etwas dazu geschrieben. Ich habe diesen Beitrag mit dem Bild der Waage zusammengebracht, um die abwägenden Gedanken der Teilnehmer*innen deutlich darzustellen. Auch das altägyptische Totenbuch kombiniert Bilder mit textlichen Erläuterungen, das wollte ich hier aufgreifen. Ich arbeite gleichzeitig auf vielen Ebenen: ästhetisch, symbolisch und mit Blick auf die Gesamtbotschaft. Für mich war es interessant, alles zu kombinieren – ich bringe etwas von früher und frage, was es uns über die Gegenwart sagen kann.“
(6) „Hier stehen wir vor der zweiten Hälfte des Kunstwerkes. Jungen und Mädchen fliegen ohne Flügel, sie verschmelzen mit der Bewegung und schließen sich den Reihen der Revolutionär*innen an. Das Fliegen ohne Flügel steht für eine Leichtigkeit, die sich den Gesetzen der Natur widersetzt und die Ankunft der Seele in einem Zustand der Erhebung und des Feierns verkörpert. Ein Ausgangspunkt für das Bild war die Zweiteilung in Zerstörung und Wiederaufbau. Im ersten Teil ist alles schwer, die Themen sind heftig, die Menschen sind auf dem Boden. Hier in der zweiten Hälfte verlieren sie diese Schwere. Die Figuren sind angelehnt an Jugendliche im Gazastreifen, die durch Parcours versuchen, ihre verengte Umgebung zu erobern. Sie haben sich entschieden: ‚Wir wollen mehr Leichtigkeit!‘ ‚Wir fliegen!‘ ‚Wir sehen die Welt aus der Vogelperspektive.‘ Sie sind bei den Revolutionär*innen. Das ist keine Demo, sondern ein Karneval. Ich lebe die Geschichten, die ich male. Emotionell befreie ich mich durch das Bild und suche selbst diese Leichtigkeit. Dazwischen ist auch eine Szene, die eigentlich zu der anderen Seite des Bildes gehört: Arme und Hände werden aus dem Fenster eines Zuges gestreckt und heben einen Menschen hoch – er will mitfahren, passt aber nicht mehr hinein. Hoffnungslosigkeit, aber auch Zusammenhalt.“
(7) „Ganz am Ende, auf der rechten Seite des Bildes, sitzt ein Mädchen in Gestalt des Sonnengottes Ra auf einer Schaukel. Sie dreht sich von den Ereignissen weg und blickt nach vorne. Aus der Sonnenscheibe sendet sie ihre Strahlen in das Land Kemet (Ägypten), dessen Name ‚schwarze Erde‘ bedeutet. Das Mädchen ist in Ägypten verwurzelt, auf einer alten Karte. Der Boden trägt ihre Geschichte. Aber alles andere ist offen, die Leinwand vor ihr ist weiß. Sie schaut nach vorne und denkt: ‚Es werden auch schwierige Themen kommen, aber ich entscheide, wo ich langgehe. Ich höre auf meinen inneren Kompass, auf meine Gefühle, auf meinen Verstand.‘“
Im Gespräch mit Sophie Eliot, Mitarbeiterin des Stadtmuseums Berlin mit Schwerpunkt Outreach, und Besucher:innen ging die Künstlerin Hanaa El Degham am 25. Mai 2022 auf die Hintergründe ihres interaktiven Kunstwerkes ein. VIDEO ANSEHEN